Erst mal tief durchatmen. Langsam bis drei zählen. Abstand schaffen.
Was klingt wie die Anleitung zu einer Achtsamkeitsübung, ist für mich in Wahrheit der Schlüssel zu einem der wertvollsten Räume, die wir als Menschen betreten können.
Viktor E. Frankl hat diesen Raum treffend beschrieben: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Wenn Reiz zur Routine wird
In meiner Arbeit als Coach und Supervisor erlebe ich diesen Gedanken fast täglich in Aktion. Menschen kommen zu mir, weil sie in bestimmten Situationen immer wieder gleich reagieren – obwohl sie sich eigentlich anders verhalten möchten.
Ein Klient etwa, nennen wir ihn Markus, berichtete: „Sobald mein Chef die Stimme hebt, geht bei mir sofort das Licht aus. Ich spüre nur noch Druck und Ärger.“ Markus reagierte auf den Reiz – die laute Stimme – automatisch. In diesem Moment verlor er seine Handlungsfreiheit.
Ich kenne das gut. Auch ich ertappe mich manchmal dabei, sofort in alte Muster zu rutschen, wenn etwas Unerwartetes geschieht – etwa, wenn ein Kunde kurzfristig absagt oder eine private Situation scheinbar aus dem Ruder läuft. Der erste Impuls ist oft: verteidigen, rechtfertigen, reagieren. Doch gerade in diesen Momenten erinnere ich mich an Frankls Satz – atme bewusst einmal tief durch und reagiere nicht sofort.
Das Tempo der Welt – und die schwindende Pause

Wir leben in einer Zeit, in der Besonnenheit fast wie ein Luxus wirkt. Alles soll sofort geschehen: schnelle Antworten, schnelle Ergebnisse, schnelle Reaktionen.
Doch je schneller wir leben, desto kleiner wird dieser wertvolle Zwischenraum.
Ich beobachte, wie Klientinnen und Klienten zunehmend in eine Art Daueranspannung geraten. Aus Tempo wird Hektik, aus Erwartung Druck, aus Druck Stress.
Viktor E. Frankl formulierte einen Gedanken, der mir als Mensch einen neuen Blickwinkel eröffnete, dass eben zwischen Reiz und Reaktion ein Raum liegt. In diesem Zwischenraum liegt die Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Chancen zur Entwicklung und unsere Freiheit.
Er hebt hervor, dass der Mensch selbst in äußerster Not die Freiheit seiner inneren Haltung bewahrt:
„Dem Menschen kann alles genommen werden, nur nicht die letzte der menschlichen Freiheiten – in jeder Situation seine Einstellung zu wählen und seinen eigenen Weg zu gehen.“
Viktor E. Frankl
Zwischen den äußeren Bedingungen – dem Reiz – und dem Handeln des Menschen beschreibt Frankl einen Raum: den Raum der Freiheit, in dem eine Wahl entsteht. Ein Pause-Moment, der entscheidend ist.
Ein Praxisbeispiel: Die Lehrerin
Vor kurzem arbeitete ich mit einer Lehrerin, die sich über einen Schüler ärgerte, der ständig provozierte. „Ich kann gar nicht anders – ich reagiere sofort hart und deutlich“, sagte sie.
In einer Übung bat ich sie, den Moment des Ärgers innerlich zu stoppen: wahrzunehmen, was sie körperlich spürt – die Anspannung im Kiefer, das schnellere Herzklopfen, die aufsteigende Hitze. Sie lernte im Coaching eine einfache Atemübung: einatmen, ausatmen, Schultern sinken lassen.
Beim nächsten Mal berichtete sie:
„Ich habe tatsächlich kurz geatmet – und plötzlich war da ein kleiner Raum. Ich konnte entscheiden, ob ich wieder schimpfe oder ruhig bleibe. Und ich blieb ruhig.“
Das war ihr erster bewusster Schritt in den Zwischenraum.
Muster erkennen und unterbrechen

Der Ablauf von Reiz und Reaktion ist ein tief im Menschen verankertes Muster. In der Regel reagieren wir auf äußere oder innere Auslöser unmittelbar – oft, ohne dass unser Bewusstsein eingreifen kann. Ein lautes Wort, eine kritische Bemerkung oder ein unerwartetes Ereignis genügen, und schon setzt ein Gefühls- oder Handlungsmuster ein. Diese Reaktionen sind häufig unbewusst und impulsiv.
Manche entstehen aus Reflexen, die uns biologisch vor Gefahr schützen sollen – etwa das Zurückziehen der Hand von einer heißen Oberfläche. Andere entspringen emotionalen Impulsen, die ihre biografischen Wurzeln haben. Ein scharfer Tonfall löst sofort Wut aus, eine Erinnerung ruft Scham oder Angst hervor. Nicht zuletzt prägen auch Gewohnheiten unser Verhalten.
Psychologisch betrachtet greifen hier mehrere Mechanismen. Durch Konditionierung lernen wir, bestimmte Reize mit festen Reaktionen zu verknüpfen – ein klassisches Beispiel ist Prüfungsangst, die sich durch wiederholte Erfahrungen verfestigt.
Trigger können alte Muster und Bewertungen aktivieren, auch wenn die Situation objektiv harmlos ist. In Stressmomenten schaltet unser Nervensystem reflexhaft in den „Kampf-, Flucht- oder Erstarrungsmodus“: Herzschlag und Atmung beschleunigen sich, und wir handeln, bevor wir nachdenken können. Diese Prozesse zeigen, wie stark unser Alltag von Automatismen durchdrungen ist.
Beispiel aus der Coachingpraxis: Der „scharfe Ton“ als Auslöser
Ich erinnere mich an eine Klientin, nennen wir sie Sabine, eine engagierte Projektleiterin in einem großen Unternehmen. Sie kam zu mir, weil sie immer wieder in Konflikte mit ihrem Vorgesetzten geriet. „Ich weiß nicht, warum ich jedes Mal explodiere, wenn er mich kritisiert“, sagte sie gleich zu Beginn unserer Sitzung.
Der Reiz – der scharfe Ton und die Kritik – löste eine sofortige Reaktion aus. Keine bewusste Entscheidung, kein Moment der Reflexion. Ihr Körper reagierte, als müsse er sich verteidigen.
Im Gespräch konnten wir dieses Muster Schritt für Schritt sichtbar machen. Ich bat Sabine, die Situation innerlich noch einmal zu durchleben – diesmal mit Aufmerksamkeit auf ihren Körper. „Was passiert zuerst?“, fragte ich.
„Mein Herz schlägt schneller“, sagte sie. „Ich spüre eine Hitze in der Brust, und in meinem Kopf ist nur noch ‚Angriff‘.“
Wir fanden heraus, dass diese Reaktion eine tiefe biografische Wurzel hatte. Als Kind hatte sie oft erlebt, dass ihr Vater in genau diesem Tonfall mit ihr sprach – hart, fordernd, ohne Lob. Sie hatte früh gelernt, sich zu verteidigen, um nicht ohnmächtig zu sein.
Der Körper reagierte also nicht auf den Chef von heute, sondern auf den Vater von damals – ein klassisches Beispiel für konditionierte Reiz-Reaktions-Verknüpfungen, die in neuen Kontexten wieder aktiviert werden.
In der weiteren Arbeit übten wir, diesen „Zwischenraum“ bewusst zu öffnen: Wenn sie den scharfen Ton hörte, sollte sie zunächst einen Atemzug nehmen, kurz die Füße am Boden spüren und den aufsteigenden Impuls wahrnehmen. Dann sollte sie sich innerlich sagen: „Das ist nicht mein Vater – das ist mein Chef.“
So lernte sie, das Lebensbiografische vom Gegenwärtigen zu trennen – und aus der Gegenwart heraus zu handeln, statt aus der gegenwärtigen Vergangenheit, wie es Niklas Luhmann einmal beschrieben hat, zu reagieren.
Einige Wochen später erzählte sie mir, dass sie es geschafft hatte: „Er hat mich wieder kritisiert, aber diesmal habe ich nicht sofort reagiert. Ich habe einfach geatmet – und plötzlich war da Ruhe. Ich konnte sagen: ‚Ich verstehe, dass Sie das ärgert. Lassen Sie uns kurz schauen, was schiefgelaufen ist.‘“
Dieser Moment war für sie ein Durchbruch. Der alte Automatismus – Reiz, Angriff, Gegenangriff – wurde unterbrochen. Im entstandenen Raum fand sie ihre innere Freiheit zurück.
Aufmerksamkeit als Türöffner
„Ich verstehe Aufmerksamkeit als die Fähigkeit, sich selbst zuzuhören, bevor man spricht.“
Mathias Hühnerbein
Die französische Philosophin Simone Weil beschrieb Aufmerksamkeit als eine Form des wachen, liebevollen Hinschauens, das frei ist von vorschnellen Urteilen.
Aufmerksamkeit schafft einen inneren Raum, in dem wir die unmittelbaren Impulse wahrnehmen können, ohne ihnen blind zu folgen. Sie, die Aufmerksamkeit, ist damit das Gegenmittel zum Automatismus. Wer aufmerksam lebt, durchbricht das starre Schema von Reiz und Reaktion und öffnet sich für eine Freiheit, die nicht aus Instinkt oder Gewohnheit gespeist ist, sondern aus bewusster Entscheidung.
In meinen Coachings beginne ich häufig mit einer einfachen Übung: Der Coachee hält für einen Moment inne und beobachtet, was gerade in ihm vorgeht – ohne das Gewesene sofort zu bewerten.
So verbindet sich die psychologische Einsicht in die Mechanismen menschlichen Verhaltens mit einer ganzheitlichen Dimension. Aufmerksamkeit verwandelt Automatismen in Möglichkeiten zur Freiheit. Sie schenkt uns die Kraft, im entscheidenden Augenblick nicht bloß Getriebene unserer Impulse zu sein, sondern bewusste handelnde – Menschen, die mit Klarheit, Mitgefühl und innerer Tiefe reagieren und dadurch Menschlichkeit, Empathie und geistige Weite in ihr unmittelbares Umfeld tragen.
Ein Manager sagte mir einmal: „Das ist schwerer als jede Präsentation.“
Und tatsächlich – Aufmerksamkeit braucht Übung. Doch sie ist der Schlüssel, um den Raum zwischen Reiz und Reaktion zu betreten.
Mein Fazit: Die Freiheit, den Zwischenraum zu entdecken
Jean-Jacques Rousseau hat es treffend formuliert: „Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.“
Wir besitzen die Macht der Wahl – und das Privileg, uns bewusst für unsere Reaktion zu entscheiden. In diesem Zwischenraum gewinne ich Abstand zum Geschehenen. Ich kann mir selbst entscheidende Fragen stellen: Was passiert gerade in mir? Warum reagiere ich so stark? Worum geht es mir wirklich? Und wie möchte ich stattdessen reagieren?
Dieser Raum eröffnet die Möglichkeit, Situationen neu zu bewerten und bewusst zu gestalten.
In diesem Sinne verstehe ich meine Arbeit als Coach: Ich begleite Menschen dabei, diesen Zwischenraum wiederzufinden – den Ort, an dem sie frei werden. Denn genau dort liegt unsere größte Gestaltungskraft: Wir können wählen, wer wir in diesem Moment sein wollen.
Autor

Mathias Hühnerbein
Mathias Hühnerbein ist als akkreditierter Lehrtrainer und Ausbilder im proCEO Institut für die Ausbildung in den Bereichen Coaching und Supervision verantwortlich.
Mit über 16.000 Stunden Beratungserfahrung arbeitet Mathias als freiberuflicher Coach, Master-Coach, Lehr-Coach, Supervisor, Lehr-Supervisor, Resilienzberater und Trainer mit Fach- und Führungskräften, Teams und Organisationen.
Außerdem war Mathias Hühnerbein als Honorardozent an der OHM Professional School in Nürnberg tätig.
