Scham im Beruf und wie Coaching zur Klarheit führt

15. Oktober 2025
Ein Mann sitzt am Arbeitsplatz und bedeckt vor Scham sein Gesicht mit den Händen. Symbolisches Bild für Scham im Beruf.

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Im Schatten der Scham: Wie Schamgefühle den Berufsalltag prägen

58 % der Angestellten haben häufig das Gefühl, ein Hochstapler zu sein; 20 % der Führungskräfte fühlen sich „immer“ oder „sehr oft“ als Hochstapler.
94 % der Betroffenen sprechen darüber nicht am Arbeitsplatz.

Indeed – Working on Wellbeing Report, 2022

„Ich weiß gar nicht, warum mir das so unangenehm ist…“

Es ist still im Raum. Mein Coachee blickt auf seine Hände, seine Stimme wird leiser. Ein kurzer Moment entsteht, in dem Worte fehlen, der Atem stockt – und etwas Unsichtbares zwischen uns spürbar wird. Eine leise Röte steigt in sein Gesicht. Scham.

Solche Augenblicke erlebe ich in meiner Arbeit als Coach und Supervisor immer wieder. Und doch bleiben sie oft unbenannt. Scham ist flüchtig, schwer greifbar, manchmal kaum auszuhalten – für meine Klient:innen, aber auch für mich selbst als begleitende Person. Sie zeigt sich zwischen den Zeilen, in Körperhaltungen, im Schweigen, im Versuch, das Thema rasch zu wechseln.

Ich betrachte Scham als eine universelle menschliche Erfahrung, die unser Denken, Handeln und Fühlen tief prägt – auch wenn sie meist im Verborgenen bleibt. Friedrich Nietzsche beschreibt in Also sprach Zarathustra: „Scham, Scham, Scham, das ist die Geschichte der Menschen.“

Der Duden definiert Scham als „ein quälendes Gefühl der Verlegenheit, das durch Reue, Bloßgestelltsein, durch Erkenntnis des eigenen Versagens oder durch etwas Unanständiges, Unehrenhaftes, Lächerliches ausgelöst wird“.

Aus meiner Sicht als Coach und Supervisor ist, entscheidend: Scham ist nicht nur ein unangenehmes Gefühl, sondern auch ein Indikator für die Werte, Normen und sozialen Bezüge, die eine Person prägen. Theodor W. Adorno bezeichnete Scham als ein tabuisiertes Thema, das in unserer defizitorientierten Gesellschaft selten offen reflektiert wird. Auch theologische Perspektiven betonen die Funktion der Scham als archaisches, selbstschützendes und regulierendes Gefühl.

In meiner professionellen Begleitung geht es daher darum, Scham als Signal zu verstehen und nutzbar zu machen – sowohl zur Selbstreflexion als auch zur konstruktiven Entwicklung von Beziehungen und Arbeitsfähigkeit.

Scham im digitalen Zeitalter

Eine junge Mitarbeiterin schaut beschämt auf den Bildschirm ihres Notebooks, als sie eine unangenehme Nachricht darin sieht.

Ich beobachte, dass die Digitalisierung die Bedingungen, unter denen Scham erlebt wird, tiefgreifend verändert hat. Soziale Medien erhöhen die Sichtbarkeit individueller Handlungen und verstärken die Wahrscheinlichkeit von Beschämung. Schon Jean-Paul Sartre wies auf die destruktive Wirkung hin, „Objekt“ für andere zu sein.

Online wird diese Erfahrung durch dauerhafte Sichtbarkeit, Likes, Kommentare und Bewertungen häufig noch intensiver. Im digitalen Raum fehlt oft der geschützte Rahmen, der in analogen Begegnungen gegeben ist. Die Distanz des Netzes führt dazu, dass Grenzen schneller überschritten und sensible Themen weniger achtsam behandelt werden.

In meiner Praxis begegnen mir beispielsweise folgende Situationen:

  • Eine Mitarbeiterin erlebt tiefe Scham, nachdem ein Fehler in einem internen Forum öffentlich gemacht wurde. Die Reaktionen der Kolleg:innen führen zu Rückzug und Selbstzweifeln.
  • Junge Erwachsene werden in sozialen Netzwerken für vermeintlich peinliche Inhalte bloßgestellt, was Angst, Rückzug oder Aggression auslösen kann.
  • Des Weiteren beobachte ich häufig, dass soziale Medien den Vergleich mit idealisierten Darstellungen anderer fördern. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit von Scham, da individuelle „Unzulänglichkeiten“ stärker wahrgenommen werden und der Druck zur Selbstoptimierung wächst.

Als Coach und Supervisor sehe ich es als meine Aufgabe, Räume zu eröffnen, in denen Klient:innen über solche digitalen Schamerfahrungen reflektieren können. Gemeinsam entwickeln wir Strategien, um Selbstbewusstsein zu bewahren, Grenzen zu ziehen und eine gesunde Distanz zu externen Bewertungen zu schaffen.

Scham ist normal

Ich verstehe Scham als ein Gefühl, das soziale Beziehungen reguliert, Werteorientierung unterstützt und die Entwicklung von Integrität und Identität fördert. Johann Schneider formuliert treffend: „Die Scham dient dazu, sich in Begegnungen – mit sich, mit anderen, mit der Welt – jeweils aktuell stimmig in Szene zu setzen.“

Scham ist kein pathologisches Phänomen, sondern allgegenwärtig. Sie begleitet uns in allen Lebensphasen – in unterschiedlichen Nuancen. Sie prägt unser Sozialverhalten, sichert unsere Zugehörigkeit zu Gruppen und kann motivierend wirken. Maßvolle Schamgefühle können zu neuen Handlungsalternativen, Autonomie und Selbstkritik anspornen.

Im Vergleich zu Affekten wie Wut, Trauer oder Angst führt Scham allerdings ein Schattendasein. Sie wird im Verborgenen gelebt, erscheint maskiert, und schon ihre bloße Erwähnung kann peinliche Berührung auslösen.

In meiner Arbeit nutze ich Scham, um Klient:innen auf ihre Werte aufmerksam zu machen:

  • Wann fühle ich mich unangemessen?
  • Wann überfordert?
  • Wann authentisch?

Scham kann so zu einem wertvollen Feedbackinstrument werden, das Orientierung im sozialen Kontext bietet.

Scham und Werte

Scham und Werte sind eng miteinander verbunden, besonders in sozialen und kulturellen Kontexten.

„Scham entsteht oft dann, wenn wir das Gefühl haben, gegen unsere eigenen oder gesellschaftlichen Werte verstoßen zu haben.“

Mathias Hühnerbein

Diese Werte können moralische, ethische oder soziale Normen umfassen, die wir als Individuen oder als Teil einer Gemeinschaft internalisiert haben.

Wenn wir etwas tun oder erleben, das im Widerspruch zu diesen Werten steht, tritt Scham als emotionale Reaktion auf – sie signalisiert, dass wir von unseren Maßstäben abgewichen sind. Zugleich beeinflussen Werte, wie Scham empfunden wird oder wie stark sie ist, da kulturelle und individuelle Normen definieren, was als akzeptabel gilt.

Beispiele aus meiner Praxis:

  • Eine Führungskraft empfindet Scham, weil sie einen Fehler gemacht hat, der ihrem Selbstverständnis von Kompetenz widerspricht.
  • Ein Teammitglied schämt sich, weil es in einem Konflikt gegen die eigenen Vorstellungen von Fairness gehandelt hat.

In Coaching und Supervision unterstütze ich Menschen dabei, ihre Werte zu reflektieren, die Quellen von Scham zu identifizieren und zu erkennen, welche Erwartungen sie übernommen oder internalisiert haben.

Scham im beruflichen Kontext

Ein Mitarbeiter schaut mit beschämtem Blick nach unten, während eines Meetings. Seine Teamleiterin und Kollegen blicken auf ihn.

Scham ist im beruflichen Umfeld allgegenwärtig, auch wenn sie selten offen benannt wird. Dort, wo Anpassung an berufliche Rollen und Leistungserwartungen im Vordergrund stehen, erleben Menschen ihre Abhängigkeit und Begrenztheit besonders deutlich.

Machtverhältnisse und Hierarchien prägen den beruflichen Alltag – und mit ihnen die Erfahrung von Beschämung. In einem Umfeld, in dem Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit und Funktionieren erwartet werden, kann die Situation, sich hilfesuchend zu zeigen, besonders beschämend wirken.

Typische Auslöser sind:

  • Abhängigkeiten und Hierarchien
  • Leistungsdruck und Konkurrenz
  • Diskrepanz zwischen Ideal und Realität
  • Inkompetenzscham und Versagensängste
  • Fehlende Anerkennung oder öffentliche Kritik

Körperliche und psychische Signale von Scham sind häufig: Erröten, gesenkter Blick, Schweißausbrüche, Rückzug, innere Unruhe, Perfektionismus.

Ein Beispiel aus der Coachingpraxis:

Eine Mitarbeiterin, die sich in einem Teammeeting ungeschickt ausdrückt, zieht sich zurück, vermeidet Blickkontakt und zweifelt an ihrer Kompetenz. Im Coaching begleite ich solche Prozesse, indem ich helfe, die Scham zu erkennen, zu benennen und konstruktiv zu verarbeiten.

Scham ist nicht gleich Schuld

Es ist entscheidend zu verstehen, dass Scham nicht automatisch ein Indikator für Schuld ist. In der psychologischen Forschung werden diese beiden Emotionen häufig miteinander verwechselt, obwohl sie funktional und strukturell unterschiedliche Rollen einnehmen.

Schuld ist eine emotionsbasierte Reaktion auf spezifische Handlungen oder Unterlassungen, die als moralisch problematisch bewertet werden. Sie richtet sich auf das Verhalten und impliziert ein Korrekturpotenzial: Man kann Schuldgefühle durch Wiedergutmachung, Entschuldigung oder Verhaltenstransformation regulieren. Schuld ist also stark aktionsorientiert und zielt auf die Wiederherstellung eines als gerecht empfundenen Gleichgewichts.

Scham hingegen betrifft das Selbstkonzept und nicht primär das Verhalten. Scham signalisiert ein Gefühl der Unzulänglichkeit oder des persönlichen Mangels – „Ich bin ungenügend“ – im Gegensatz zu „Ich habe etwas falsch gemacht“.

Sie hat eine stark interpersonelle Dimension, da sie in sozialen Kontexten entsteht und sich auf die Wahrnehmung durch andere bezieht. Forschung aus der Entwicklungspsychologie und Sozialpsychologie zeigt, dass Scham die Motivation, sich zurückzuziehen, sich zu verstecken oder soziale Kontakte zu vermeiden, stark beeinflussen kann, während Schuld häufig prosoziales Verhalten wie Reparatur oder Entschuldigung stimuliert.

Scham ist somit ein Selbstbewertungszustand, der vor allem die interne und soziale Kohärenz des Selbst betrifft, während Schuld eine verhaltensorientierte Emotion ist.

Positive Effekte der Scham

Ein Mitarbeiter zeigt Mitgefühl und legt seine Hand auf die Schulter eines bedrückten Kollegen, um ihn aufzumuntern.

Scham reguliert nicht nur soziale Beziehungen, sondern stärkt auch die Beziehung zu sich selbst. Sie zeigt Grenzen auf, schützt das Selbst und unterstützt die Wahrung der Würde. Darüber hinaus fördert sie Empathie und Mitgefühl.

Menschen, die Scham empfinden können, entwickeln eine sensiblere Wahrnehmung für die Bedürfnisse anderer. Ein ausgewogenes Schamempfinden signalisiert Verletzlichkeit und ermöglicht authentische Nähe.

Ich sehe Scham als Instrument der Selbstreflexion, Werteklärung und bewussten Verhaltensgestaltung. Sie ist nicht bloß Einschränkung, sondern ein entwicklungsfördernder, innovativer Mechanismus der Psyche, der Schutz, Zugehörigkeit und Integrität unterstützt.

Beispiel aus meiner Praxis:

Ein Teammitglied reflektiert mit mir die eigene Scham über ein unbedachtes Verhalten. Durch die bewusste Auseinandersetzung entsteht Empathie – die Beziehung zu den Kolleg:innen verbessert sich. Scham wird so zum Katalysator für menschliche Reifung und Beziehungsfähigkeit.

Konstruktiver Umgang mit Scham im Coaching und in der Supervision

Ein Mann spricht im Coaching über seine Scham.

Akzeptanz

Ich sehe Scham als universelles menschliches Gefühl, das uns signalisiert, wenn Handlungen oder Gedanken nicht mit unseren Normen übereinstimmen. Entscheidend ist, sie nicht zu verdrängen, sondern als legitimen Hinweis wahrzunehmen.

Selbstachtung

Scham bedeutet nicht mangelnde Selbstachtung. Sie spiegelt situative Bewertungen wider, keine Defizite der Persönlichkeit. Indem ich meine Klient:innen ermutige, Scham zu fühlen, ohne sich selbst abzuwerten, stärken sie ihr Selbstbild.

Aufarbeitung erlernter Scham

Viele Schamreaktionen sind anerzogen. In der Supervision reflektiere ich mit meinen Klient:innen, wann und warum sie auftreten, um alte Glaubenssätze zu erkennen und neue, bewusste Strategien zu entwickeln.

Scham erkennen und benennen

Scham äußert sich oft indirekt – etwa durch Rückzug, Abwehr oder Perfektionismus. Wenn sie erkannt und ausgesprochen wird, verliert sie ihre Macht.

Empathie und Akzeptanz

Eine wertschätzende Haltung ist zentral. Ich bemühe mich, durch Empathie einen sicheren Raum zu schaffen, in dem Scham nicht als Makel, sondern als menschliche Erfahrung verstanden wird.

Ressourcen aktivieren

Zur Bewältigung von Scham nutze ich ressourcenorientierte Methoden – etwa Achtsamkeit, Atemarbeit oder das Bewusstmachen persönlicher Stärken. So entsteht emotionale Stabilität, die es ermöglicht, Schamgefühle zu halten, ohne dass sie lähmen.

Fazit

In meiner Arbeit als Coach und Supervisor erlebe ich immer wieder, dass Scham ein leises, aber kraftvolles Gefühl ist – ein unsichtbarer Begleiter, der sowohl blockieren als auch leiten kann. Scham zeigt uns, wo wir verletzlich sind, wo unsere Werte liegen und wo wir uns selbst oder andere schützen wollen. Sie ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck menschlicher Sensibilität und sozialer Verbundenheit.

Gerade im beruflichen Kontext, in dem Leistungsfähigkeit, Selbstkontrolle und Kompetenz hohe Bedeutung haben, bleibt Scham oft unbemerkt. Doch wenn sie benannt und reflektiert werden darf, eröffnet sie neue Räume für Authentizität, Selbstbewusstheit und Integrität.

In Anlehnung an Stephan Marks verstehe ich Scham als Hüterin der menschlichen Würde. Sie bewahrt die Grenze zwischen dem, was uns als Person unantastbar macht, und dem, was diese Würde bedroht. Scham reagiert, wenn wir uns selbst oder andere entwürdigen – sie erinnert uns daran, dass jeder Mensch ein Recht auf Achtung und Selbstachtung besitzt. In diesem Sinne ist Scham ein zutiefst ethisches Gefühl, das den Kern unseres Menschseins berührt.

Als Coach und Supervisor sehe ich es als meine Aufgabe, einen Raum zu eröffnen, in dem Scham weder verdrängt noch bewertet, sondern verstanden wird. In der bewussten Auseinandersetzung mit ihr entsteht die Möglichkeit, sich selbst in seiner Verletzlichkeit zu erkennen und gleichzeitig die eigene Würde zu bewahren.

So verstanden wird Scham nicht länger zum Hemmnis, sondern zum Entwicklungsimpuls: Sie erinnert uns daran, dass wir soziale, fühlende und verantwortliche Wesen sind – verletzlich, lernfähig und auf Beziehung hin angelegt. Wer sich seiner Scham stellt, gewinnt nicht nur innere Klarheit, sondern auch die Freiheit, sich in seinem beruflichen und persönlichen Handeln authentisch, respektvoll und würdevoll zu zeigen.

Autor

Profilbild von Mathias Hühnerbein, Inhaber von proCEO – die Kompetenz.Entwickler.

Mathias Hühnerbein

Geschäftsführender Inhaber von proCEO, Master-Coach, Lehr-Supervisor, Ausbilder EASC, Organisationsberater, Mediator, Mentor und Resilienzberater.

Mathias Hühnerbein ist als akkreditierter Lehrtrainer und Ausbilder im proCEO Institut für die Ausbildung in den Bereichen Coaching und Supervision verantwortlich.

Mit über 16.000 Stunden Beratungserfahrung arbeitet Mathias als freiberuflicher Coach, Master-Coach, Lehr-Coach, Supervisor, Lehr-Supervisor, Resilienzberater und Trainer mit Fach- und Führungskräften, Teams und Organisationen.

Außerdem war Mathias Hühnerbein als Honorardozent an der OHM Professional School in Nürnberg tätig.

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